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Eigenbetrieb des Landkreises Harz

Per Video-Telefonat: So funktioniert Musikunterricht mit Tablet-PC

27.04.2020

Von Susanne Thon, 21.04.20, mz Quedlinburg

„Wow, klasse! Sogar mit Triller!“ Rüdiger Herrmann hat nichts auszusetzen. Sophia hat in den letzten Tagen fleißig geübt. Nicht nur die Gavotte. Seit dem Vorschulalter spielt die Achtjährige Flöte. Einmal in der Woche hat sie Unterricht. Herrmann, Standortleiter der Kreismusikschule, ist ihr Lehrer. Auch jetzt, während der Corona-Pandemie, treffen sie sich.

Also nicht auf herkömmliche Art und Weise, sondern virtuell. Um 14.43 Uhr stellt der 52-Jährige mit seinem iPad via „FaceTime“, einem Programm für Video-Telefonate und -konferenzen, die Verbindung her. Er sitzt in seinem Unterrichtsraum im Bildungshaus in der Heiligegeiststraße, und Sophia, die mit vollem Namen Sophia Ursula Christine Meirich heißt, ist in ihrem Kinderzimmer.

„Wir machen aus der Not eine Tugend“, sagt Ulrike Stumpf-Schilling. Sie ist die Leiterin der Musikschule. Ein Onlineangebot zu etablieren, „schwebte uns schon länger vor“. Als vor nunmehr über einem Monat die vorübergehende Schulschließung beschlossen wurde, stellte die Einrichtung von heute auf morgen auf den digitalen Unterricht um.

Die Lehrer – 74 gibt es, einschließlich der Honorarkräfte –, so die Musikschulchefin, zögen mit, die Schüler und Eltern auch. Und so nehmen die meisten der rund 1.200 Musikschüler das neue Angebot wahr.

Darunter Herrmanns Kinder. Auch aus Elternsicht kann er sagen: funktioniert. Zwei seiner drei Kinder besuchen die Musikschule, die Tochter hat Klavier- und Harfenunterricht, der Sohn spielt Cello und singt.

Mit Sophia feilt er jetzt an der Technik der Atemtechnik. „Versuch mal, ob du vier Takte schaffst, ohne Luft zu holen“, fordert er die Zweitklässlerin auf. Die junge Flötistin atmet tief ein, so, als wollte sie gleich abtauchen, und legt los. Erster Takt, zweiter, dritter. Dann gehen ihre Luftreserven zu Ende.

Man einigt sich, an einer anderen Stelle zu atmen. Nach zweieinhalb Takten. Herrmann deutet an, seiner Schülerin den Bleistift durchs Tablet reichen zu wollen; die muss das Atemzeichen selbst an die richtige Stelle einzeichnen. „Jetzt merkt man erst mal, wie oft man als Lehrer reinkringelt“, sagt Stumpf-Schilling.

Sie selbst gibt Akkordeon- und Klavierunterricht. Online zu unterrichten, sei ganz anders, erklärt sie. „Man ist viel näher dran am Notentext, muss viel mehr reden.“ Aufs Notenblatt tippen, um die Aufmerksamkeit des Schülers auf eine bestimmte Stelle zu lenken – geht nicht.

Die muss jetzt schon genau definiert werden: erste Zeile, vierter Takt, dritter Schlag. Zum Beispiel. „Wir arbeiten zurzeit mehr an der Theorie als an der Klangschönheit.“ Auch beim Stimmen der Instrumente – das betrifft Streicher und Gitarrenschüler – kann der Lehrer aus der Ferne nur bedingt eingreifen.

Da müssen dann schon mal die Eltern ran. Denen sagt er dann, welcher Knopf in welche Richtung gedreht werden muss. Dazu kommen technische Finessen wie die Ausrichtung der Kamera – die sollte auf die Hände gerichtet sein.

Und auch mit der Verbindung ist das manchmal so eine Sache. „FaceTime“, „Skype“, „WhatsApp“ – gearbeitet wird mit verschiedenen Programmen für Videotelefonie. Es gab aber auch schon Unterricht am Telefon – ohne Bild. „Das ist für alle eine komplett neue, schwierige Situation“, sagt Stumpf-Schilling, aber auch eine schöne Erfahrung.

„Man lernt viel von der Persönlichkeit der Schüler kennen, sieht, wie sie an die Sache rangehen“, schon, wenn der Ruf hergestellt wird: Da säßen einige „geschniegelt und gebügelt“ bereit, mit anderen renne man erst mal durchs Haus – Noten suchen.

Die Musikschule ist ein Eigenbetrieb des Landkreises, wird von ihm mit 60 Prozent bezuschusst und mit zehn Prozent vom Land gefördert. Die restlichen Einnahmen stammen aus den Gebühren. Und da gibt es trotz aller Bemühungen derzeit Einbrüche: Laut Stumpf-Schilling fallen jede Woche 136 Stunden aus.

Musikalische Früherziehung funktioniert online nicht; Schüler, die gerade erst angefangen haben, sind beim digitalen Unterricht ebenfalls außen vor; den Grundstock zu legen, dafür braucht es den Präsenzunterricht. Und auch die Ensembleproben können nicht stattfinden. Denn das Zusammenspiel auf die Ferne ist schon zu zweit kompliziert.

Um Sophia zu begleiten, startet Herrmann minimal früher als sie - für die Musiker: eine Achtelnote. Was er nicht hört: dass sein Ton bei ihr erst eine Viertelnote später, also mit Verzug, ankommt. Die Schülerin lässt sich davon aber nicht beirren, spielt einfach weiter und sagt hinter: „Ich habe da gar nicht drauf gehört.“

Alternativ könnte Herrmann die Stimme im Vorfeld einspielen und ihr die Tonspur zukommen lassen. Auf der Website gibt es seit Kurzem einen Bereich „digitaler Unterricht“ – für den Datenaustausch. In Sophias Fall wäre das überflüssig. Sie hat das Glück, mit ihrer Mutter, Andrea Wulff-Woesten, die Quer- und Blockflöte spielt, eine Duettpartnerin an der Seite zu haben. „Wenn wir gut sind“, sagt die, „üben wir drei Mal die Woche“.

„Die Situation ist auch für viele Familien nicht einfach“. Ob und inwieweit sich die aktuellen Entwicklungen auf die Schülerzahlen niederschlagen werden, vermag Stumpf-Schilling noch nicht zu sagen. „Die Situation ist auch für viele Familien nicht einfach“, weiß sie um deren finanzielle Belastung, etwa durch Kurzarbeit.

Dazu kommt: Die Kreismusikschule hat gerade keine Möglichkeit, sich zu präsentieren, die Musikschüler von morgen auf sich aufmerksam zu machen. Konzerte fallen aus, und selbst wenn sie stattfinden dürften: „Die Ensembles sind nicht spielfähig“; es werde einige Wochen dauern, bis das wieder der Fall sein werde, sagt die Musikschulleiterin.

In den Schulen kann sich die Einrichtung nicht vorstellen – das macht sie immer im zweiten Halbjahr. Und auch der Tag der offenen Tür steht – in seiner bisherigen Form – auf der Kippe. Normalerweise gibt es mit Beginn eines neuen Schuljahres rund 270 Neuaufnahmen.

Sophia spielt sich derweil durch ihr Notenbuch: erst „O du lieber Augustin“, dann den Schwabentanz. Schwierige Stellen erst greifen, einen Moment warten, spielen, erklärt Herrmann und macht’s vor. Sophia rückt ganz nah ans Bild, um alles im Blick zu haben, versucht es dann selbst. Klappt. Weiter geht’s mit „Es tönen die Lieder“. „Irgendwann“, so Herrmann, „können wir das auch als Kanon spielen, zu zweit oder zu dritt. Ich freu' mich schon drauf.“

„Es ist doof, dass wir nicht zusammenspielen können“, sagt Sophia. „Aber besser als gar kein Unterricht“, hakt Andrea Wulff-Woesten ein, „dass das so läuft, ist toll.“ „Der digitale Unterricht wird niemals den Musikunterricht ersetzen“, erklärt Stumpf-Schilling. Man müsse Abstriche machen; er entspreche nicht der Qualität, „die unser Anspruch ist“. Aber: „Es ist eine geniale Variante zur Überbrückung.“

Und eine echte Alternative. Nicht nur im Pandemie-Fall. Stumpf-Schilling fallen ad hoc ein paar Situationen ein, in denen die Onlinestunde Unterrichtsausfall vorbeugen könnte. Und so soll auch künftig, wenn die Schule wieder geöffnet ist, von den neu erschlossenen Möglichkeiten Gebrauch gemacht werden. (mz)